Du musst nicht vergessen

Weihnachtsgeschichte 2008

WUMMS. Die Tür war zu. Etwas perplex stand ich nun also vor der soeben zugeknallten Wohnungstür meines neuen Freundes David. Ich hätte es wissen sollen. Die anderen hatten mich immerhin zur Genüge gewarnt. Aber wie sollte es auch anders sein – ich wollte es natürlich wieder einmal besser wissen. Sie hatten mir gesagt, dass er Weihnachten hasste, nein, nicht nur hasste, er verabscheute es. Den ganzen Advent über, und schon die Zeit davor, in der man die ersten Weihnachtsfernsehspots im TV und die ersten Weihnachtsangebote und -Dekorationen in den Schaufenstern der Geschäfte sehen konnte, war er schlecht gelaunt. Am liebsten verkroch er sich dann in seiner Wohnung, versuchte, aktuelle Tageszeitungen mit Weihnachtsmännern und Nikolo-Ankündigungen, sowie irgendwelche Weihnachtsfilme zu vermeiden und beschäftigte sich mit anderen Dingen. Seit wann das so war, wusste keiner. Nicht einmal sein langjähriger Freund Timo konnte dieses Geheimnis lüften, nicht einmal, als ich versucht hatte, ihn mit Glühwein und Lebkuchen zu bestechen, wollte er damit heraus rücken. Vielleicht auch deswegen, weil er es tatsächlich nicht wusste...

 

Ich hatte versucht, David zu überreden, mit mir auf den Christkindlmarkt zu gehen und dort einen Punsch zu trinken oder einen kandierten Apfel zu probieren. Doch scheinbar zog nicht einmal die Lockmethode mit Essbarem, um ihn dazu zu bewegen, mit mir dorthin zu gehen. Dabei mochte ich die Weihnachtszeit. Ich liebte die Musik, die in dieser Jahreszeit im Radio gespielt wurde, ich sah mir gern kitschige Weihnachtsstreifen im Abendprogramm an und am liebsten streunte ich, eingehüllt in einen warmen, flauschigen Schal und bewaffnet mit Handschuhen, über den Christkindlmarkt. Am schönsten war es natürlich, wenn es gerade anfing zu schneien, die kleinen Schneesterne vom Himmel tanzten und man ihnen dabei zusehen konnte, wie sie auf der Handfläche, auf der man sie aufgefangen hatte, langsam schmolzen. Die Lichterketten, die überall die Straßen und Tannen schmückten, erinnerten an funkelnde Sterne und der Geruch von frischem Lebkuchen und Zimt lies einen mit wohligem Gefühl an seine Kindheit zurückdenken, an die gemütlichen Weihnachtsabende vor dem Kamin, mit der ganzen Familie.

 

„David? David! Mach auf, lass mich rein!“, rief ich und hämmerte an die, nur mit einem Namensschild geschmückte Tür, „Ach komm, jetzt sei doch nicht so!“

 

Doch er antwortete nicht... auch nach dem dritten und vierten Mal regte sich nichts und ich stand immer noch am Gang. Davids Nachbarin, Frau Mitteregger, lugte mit genervter Miene aus ihrer Wohnung hervor und ich machte eine entschuldigende Geste, die sie zu besänftigen schien. Das konnte doch nicht wahr sein, dass der Kerl mich jetzt hier allein hier draußen stehen ließ? Hatte ich ihn tatsächlich so verärgert? Als ich mein Ohr an die Tür drückte, hörte ich, dass er eine CD seiner Lieblingsband laut aufgedreht hatte. Wahrscheinlich hatte er mich nicht einmal gehört.

Ich lauschte gerade dem Gitarrensolo, als ich spürte, wie der Widerstand, an dem ich lehnte nachgab, ich das Gleichgewicht verlor und nach innen – geradewegs in Davids Arme taumelte. Verwundert blickte ich hoch und sah in sein immer noch etwas mürrisches Gesicht.

 

„Was lauscht du an meiner Tür, komm lieber rein...“, meinte er nur knapp, ich rappelte mich wieder hoch und folgte ihm etwas unsicher ins Wohnzimmer. Ein Krimithriller lag aufgeschlagen auf der Couch, scheinbar hatte er gelesen. David deutete mir, ich sollte mich setzen. Ich tat, wie mir geheißen und kurze Zeit später hielt ich auch noch eine Tasse warmen Kaffees in der Hand. Er lies sich neben mich auf die Couch sinken und schwieg eine Weile. Gespannt betrachtete ich ihn. Er schien mit sich selbst zu kämpfen und ich konnte nicht genau erkennen, ob er siegte oder verlor, als er sich mir zuwandte und zu reden begann.

 

„Tut mir leid, dass ich die Tür zugeknallt habe...“, meinte er etwas verlegen. Ich lächelte ihn nur an. Ich konnte verstehen, dass er das getan hatte, leider hatte ich den Hang, gelegentlich etwas lästig und aufdringlich zu werden, was nicht selten dazu führte, das man mir die Tür vor der Nase zuschlug...

 

„Ich hasse Weihnachten...“, murmelte er mit gesenktem Kopf.

 

„Tut mir leid... ich hätte dich gar nicht erst fragen sollen, war nicht böse gemeint...“, entgegnete ich.

 

David sah mich mit einem etwas gequältem Lächeln an, „Ach was, das ist ja nicht deine Schuld, konntest du ja nicht wissen...“

 

Und ob ich es gewusst hatte... und trotzdem hatte ich ihn damit genervt. Warum war ich nur immer so rücksichtslos... was das nicht eigentlich eine Eigenschaft, die man eher Männern zusprach?

 

„Wenn du magst, erzähle ich dir, wieso ich Weihnachten nicht mag... aber versprich mir, dass du mich dann nie wieder darauf ansprichst“, meinte David. Etwas verdattert nickte ich einfach, ohne etwas dazu zu sagen. Er wollte sich mir anvertrauen... am besten, ich hielt einfach den Mund und hörte ihm zu. Ich kuschelte mich an ihn, er legte seinen Arm um mich und begann zu erzählen...

 

Er erzählte mir von seiner Kindheit, wie er noch bei seinen Eltern und seinen Geschwistern gelebt hatte. Es war im Winter gewesen, als er 12 Jahre alt war. Seine Schwester Julia und sein kleiner Bruder Andreas spielten gemeinsam mit ihm im Schnee vor dem Haus. Davids Familie hatte auf dem Land gelebt, in einem großen Haus. Die drei Geschwister, ihre Eltern und der Golden Retriver Kafka. Die Kinder hatten sich dazu entschlossen, mit dem Hund draußen im Schnee zu spielen, einen Schneemann zu bauen und sich eine Schneeballschlacht zu liefern, während ihre Eltern drinnen das Weihnachtsessen vorbereiteten und auf das Christkind warteten, das die Geschenke für die Kinder bringen sollte.

 

Aufgeregt und aufgedreht, wie Kinder zu Weihnachten nun mal sind, vergnügten sie sich im Schnee, bis es ihnen zu langweilig wurde und sie nach anderer Abwechslung suchten. Die Kinder schnappten sich schließlich einen der Schlitten aus dem Schuppen und machten sich auf den Weg in den nahe gelegenen Wald. David, als der Älteste, musste natürlich seine Geschwister, die sich auf den Schlitten gesetzt hatten, ziehen. Kafka lief neben ihnen und wirbelte den weichen Schnee auf. Die Kinder gingen immer weiter in den Wald hinein. Als es zu Schneien begann und David das Ziehen des Schlitten zu anstrengend wurden, ließen die Kinder den Schlitten stehen und gingen zu Fuß weiter. Sie bahnten sich einen Weg durch das Labyrinth von Bäumen und waren schon ziemlich weit gekommen, als sie sich langsam einem Bach näherten. Der Bach war halb zugefroren doch man könnte noch ein leichtes Plätschern hören, das sich unbeirrt seinen Weg durch den Wald bahnte. Eine schmale Holzbrücke führte über den Bach. Die Kinder wollten auf die andere Seite, doch das Holz war vereist und als Davids kleiner Bruder Andreas als Erster die Brücke überqueren wollte, rutschte er auf dem glatten Eis aus und stürzte mit einem Schrei in den Bach. Vor Schreck fing die kleine Julia sofort an zu Weinen und David rief nach seinem Bruder. Dieser antwortete zwar sofort, doch wie es schien, hatte er sich am Fuß verletzt und schaffte es nicht, alleine wieder herauszukommen. Nach etlichen Bemühungen gelang es auch David nicht, seinem Bruder heraus zu helfen. Verzweifelt überlegte er, was sie machen sollten. Sie brauchten dringend Hilfe!

 

Vom Himmel fielen riesige Schneeflocken und bald würde es dunkel werden. Julia weinte immer noch. David musste eine Entscheidung treffen. Wieso hatte er nicht vorher nachgedacht? Er hatte nicht einmal seinen Eltern Bescheid gegeben, dass er mit seinen Geschwistern in den Wald zum spielen gegangen war. Nach langem Überlegen kam der Junge zu dem Schluss, dass es wohl das Beste sei, mit seiner Schwester zurück nach Hause zu gehen und dort Hilfe zu holen. Er befahl Kafka, hier zu bleiben und auf Andreas aufzupassen, versicherte dem Kleinen, er würde so bald wie möglich wieder kommen und er solle keine Angst haben und nahm dann seine kleine Schwester Huckepack. Die beiden machten sich auf den Heimweg. Aufgrund der Last war David langsamer als sonst unterwegs und da es langsam aber sicher dunkel wurde, fürchtete er, den Weg nach Hause nicht mehr finden zu können. Es schneite so stark, dass die Spuren, die die Kinder hinterlassen hatten, bereits wieder mit Neuschnee bedeckt waren. Mehr oder weniger ohne Ahnung, wo er hin musste, lief David einfach in die Richtung, aus der sie gekommen waren, das immer noch schluchzende Mädchen auf seinem Rücken...

 

Nachdem sich der Junge beinahe gänzlich verlaufen hatte, fand er letztendlich doch noch nach Hause und verständigte sofort seine Eltern, die bereits den Garten und die Nachbarschaft nach den Kindern absuchten. Als David erzählte, was passiert war, verständigten sie sofort die Polizei, holten sich eine Taschenlampe und machten sich auf den Weg in den Wald, um nach Andreas und Kafka zu suchen. David und Julia schickten sie nach drinnen, sie sollten ins Bett gehen und ja das Haus nicht verlassen... Am nächsten Morgen erfuhr David, dass sein kleiner Bruder Andreas und ihr treuer Hund Kafka erfroren gefunden worden waren. Seitdem feierte diese Familie nie wieder Weihnachten...

 

Als ich die Geschichte zu Ende gehört hatte, liefen mir Tränen über die Wangen. Ich sah meinen Freund an, auch ihm standen Tränen in den Augen. Wie schwer es für ihn gewesen sein muss, diese Tragödie wieder auszugraben und sie mir zu erzählen... Nun konnte ich verstehen, wieso er Weihnachten so hasste. Mir würde es an seiner Stelle auch nicht anders gehen. Sein Bruder war damals gestorben, er war im Schlaf erfroren... Ich umarmte David und leistete ihm den restlichen Tag Gesellschaft, ohne auch nur ein Wort zu sagen...

 

Am Weihnachtstag machte ich mich in aller Frühe schon auf den Weg zur Wohnung meines Freundes. Ich hatte David zwar versprochen, dass ich ihn an diesem Tag in Ruhe lassen würde, doch andererseits konnte ich es auch nicht mit an sehen, wie sehr er zu dieser Zeit leidete und dann auch noch ganz alleine... Ich hatte einen Entschluss gefasst und diesen gestern Nachmittag noch umgesetzt. Nun trottete ich mit einem Pappkarton durch die Gegend. Darin befand sich eine warme Decke, etwas Hundefutter und ein kleiner, goldbrauner Hundewelpe. Ein Golden Retriver. Ich wusste, dass er David an seinen damaligen Hund erinnern würde. Und das war auch gut so. Man soll die Vergangenheit nicht einfach verdrängen, sondern lernen, damit zu leben, auch wenn es schwer war. Doch das war nicht der einzige Grund, wieso ich hier mit einem Hündchen ankam. Ich wollte nicht, dass er Weihnachten noch länger nur mit dieser schrecklichen Erinnerung verband. Ich wollte, dass er auch etwas erfreuliches hatte, an das er denken konnte, wenn er an Weihnachten dachte und ich war mir sicher, dass dieser kleine Hundewelpe sein Herz berühren würde.

 

Ich stieg die Treppen des Appartmenthauses nach oben, bis ich vor Davids Wohnung zum Stehen kam. Ich öffnete noch einmal den Deckel des Kartons, um das kleine Hündchen noch einmal zu Streicheln. Leise winselte es, doch ich flüsterte ihm zu, dass es keine Angst zu haben brauchte und dass es bald wieder ins Warme kommen würde. Dann stellte ich den Karton auf der Fußmatte von David ab und betätigte die Klingel. Anstatt zu warten, lief ich über die Treppen noch ein Stockwerk nach oben, um zu lauschen, ob er die Tür aufmachen würde. Und tatsächlich, kurze Zeit später ging die Tür auf.

 

„Nanu? Was ist das denn?“, hörte ich die Stimme meines Freundes. Ich hörte, wie er den Karton öffnete und das kleine Hündchen freudig zu Bellen begann. „Wo kommst du denn auf einmal her, Kleiner? Hier draußen ist es doch viel zu kalt für dich...“ Davids Verwunderung war wirklich nicht zu überhören und ich merkte, dass ich bis über beide Ohren grinste und mir warm ums Herz wurde, als er zusammen mit dem kleinen Welpen wieder in seine Wohnung zurück ging. Ich wusste, was David machen würde. Er würde das Hündchen mit nach drinnen nehmen und sich darum kümmern. Ich hatte noch einen Zettel hinein gelegt, auf dem ich ihn bat, mir nicht böse zu sein und dass ich mir sicher war, dass das Hündchen bei ihm in den richtigen Händen war...

 

Leise huschte ich die Treppen wieder nach unten und machte mich auf den Nachhauseweg zur Weihnachtsfeier meiner Familie. Ich zweifelte nicht an dem, was ich getan hatte. Es war das Richtige gewesen. Und vielleicht feierten David und der kleine Golden Retriver ja schon nächstes Jahr mit mir gemeinsam Weihnachten...

 

ENDE